Meine Liebe…
…Du wolltest ja nicht mitkommen.
Dabei hatte ich bestens argumentiert, wie ich finde. Zwanzig Jahre Ausnahmeerscheinung, musikalisch etwas tatsächlich Ungewöhnliches, etwas, das sich von jeher allen Kategorisierungen entzogen hat und auch weiterhin entzieht, „Industrial“ – jajaja, irgendeinen Namen muss das Kind anscheinend haben, aber das sagt so viel wie wenig.
Herr Reznor, der ist Nine Inch Nails, das ist kein Bandprojekt, auch wenn da mehr Leute auf der Bühne stehen als er allein, kraftvoll, treibend, berührend, ich war mir sicher, dass „Hurt“ den Abend abschlösse und es das Johnny Cash-Cover um Längen überträfe, ein muskelbepackter Herr in den Vierzigern, Gitarren, Klavier und und und, aber Deine Entscheidung stand irgendwie.
Die Lautstärke, die vielen Menschen, die Enge, nicht die favorisierte Musikrichtung, und dann noch mitten in der Woche…, was soll ich sagen? Ja, stimmte alles. Die 70er-Jahre-hässliche Philipshalle war voll, vielleicht geschätzte fünftausend Leute, die bereits um 18.30h in einer etwa zweihundert Meter langen Schlange anstanden an diesem verdammt heißen Montagabend, innen drin dann dicht an dicht, geht das, dass alle Stehplätze besetzt sind? War jedenfalls der Fall und die eigene Entscheidung, auf die Tribüne auszuweichen insofern vollkommen richtig, als dass bereits nach den ersten Titeln etliche Steher das Unmögliche im Gedränge schafften, nämlich umzukippen. Laut, nun, wer den Klangteppich der Vorgruppe ohne Schutz überstanden hatte, hatte eigentlich nichts zu befürchten, Vergleiche mit den am gleichen Ort zu anderer Zeit gastierenden Menschen wie Paul Potts, Peter Kraus, Status Quo oder Horst Lichter hinkten aber wohl weiterhin.
Ich weiß nicht genau, wie Du den Abend alternativ verbracht hast. Pünktlich z. B. mit der Tagesschau stand da ein halbes Dutzend Dänen auf der Bühne und spielten als „Mew“ Sachen, die ein wenig an „Muse“ oder auch „Polarkreis“ erinnerten. Nicht ganz ungefällig, aber verschnörkelt und verspielt und nicht allein mit den Instrumenten oder den Samples, sondern auch mit den Rhythmen und dem Gesang recht experimentierfreudig und so der Gradlinigkeit und Punktgenauigkeit des Hauptgastes deutlich entgegengesetzt. Vier unterscheidbare Lieder strapazierten die Trommelfelle, nach exakt dreißig Minuten war das Ganze dann abgearbeitet. Wenn man scharf auf den Main Act ist, kann eine Vorgruppe, egal eigentlich welche, die Pest sein. Sorry, Mew.
Solltest Du vor der Glotze gelandet sein, hattest Du Deine Entscheidung zwischen „Die Superlehrer“, „CSI: NY“ und „Die spektakulärsten Tierrettungen der Welt“ längst getroffen, als unter Dauergepuste der Nebelwerfer all das Kabelgestrüpp und die weiteren skandinavischen Reste von der Bühne geräumt und der heimliche vierte Begleiter von Herrn Reznor enthüllt wurde: Licht, eine Wand aus Licht, teilweise schmerzhaft hellem Licht, wie sich zeigen sollte, ein bisschen wie Schweißfeuer.
Magst Du klare Formen? Dann hättest Du Wohlgefallen am Ort des Geschehens gefunden – da lag nichts herum! Nicht ein Fitzel zu viel, viel Platz zwischen den Instrumenten, kein Schnickschnack oder Alibichaos, was Kreativität oder was auch immer symbolisieren soll. Wie eine gut organisierte Profiküche oder so.
„Good evening, Düsseldorf! We´re Nine Inch Nails from blablabla. It´s nice to be here again blablabla“ und so weiter und so fort, Du kennst vermutlich den Salm, den andere im Scheinwerferlicht ablassen, so hätte es z. B. Herr Reznor um Punkt Neun machen können. Tat er aber nicht. Vielleicht ist man mit Mitte Vierzig einfach nicht mehr so, vielleicht war Herr Reznor so nie, ich neige zur letzten Einschätzung, ist aber auch egal am Ende. An dem Abend war er jedenfalls nicht da, um sich wie ein Showmaster zu produzieren und Schwätzchen mit dem Publikum zu halten, sondern um zu spielen.
„Home“ war der Auftakt, ein bisschen wie Vorglühen bei einem Diesel, denn die Maschine lief auf Touren ab „Terrible Lie“, dem zweiten Titel. Hast Du schon mal fünftausend Fäuste gesehen, die synchron in die Höhe schießen? Hättest Du genau in dem Moment, denn da waren sich einige sehr einig, wie man das Lied würdigt. Wie die weiteren, so kannte es jeder dort Wort für Wort, das Schreien muss man draußen auf der Siegburger Straße trotz des Sommerabendverkehrs gut gehört haben. Unheimlich? Ein wenig, hehehe.
Keine Sorge, ich zähle jetzt nicht irgendwelche Liednamen auf, die Du eh nicht kennst. Herr Reznor marschierte quer durch seine Diskographie, nahm sich noch ein Stück von Gary Numan („Metal“) und ein anderes von David Bowie („I´m afraid of Americans“ – zu recht, hahaha) vor und machte erst nach zwanzig Stücken eine Kürzestpause, um dann noch vier Zugaben nachzulegen. Danke, Licht an, fertig. Nicht nur der Sänger, der teilweise vor Kraft und Konzentration buchstäblich von der Bühne abhob, sondern auch die bespielte Menge. Von der klimatisierten Luft war da nichts mehr übrig, das drängelige Halleverlassen ein Erlebnis für Nerven und Nase. Naja.
Ich meine, da nicht nur Schweiß und Bier gerochen zu haben, sondern auch etwas wie Angebranntes, ich bin mir fast sicher. Es war garantiert dieses unglaubliche Licht, was da verschossen wurde, mal weiß, mal lila, mal grün. Die Netzhaut schien zwischendrin Blasen zu werfen, ohne Auftragerei: mir liefen die Tränen runter, und es tat ein wenig weh.
Herrn Reznor gegenüber begleitete ein halbnackter junger Typ, der sein Lichtpult betanzte und die Musik punktgenau sichtbar machte. Schwerstarbeit wohl, ich glaube, er ist nach „Hurt“ zusammengebrochen und musste von den Hupfdolls, die ihn zu recht die ganze Zeit über angeschmachtet und sich um ihn herumgeschlängelt hatten, wiederbelebt werden.
Ja, „Hurt“ war der Abschluss – braucht es mehr? „Closer“ vielleicht, das hätten die einen vermisst. „We´re in this together now“ vielleicht, das wäre mir noch ein Anliegen gewesen, aber das spielte nach den letzten Klängen keine Rolle mehr. „If I could start again a million miles away, I would keep myself, I would find… a way.“
Du hättest mitkommen sollen, denn Herr Reznor sagte mit dem Auftritt auf unbestimmte Zeit „Auf Wiedersehen“, der Abend wird sich also so rasch nicht wiederholen. Hmm? Ja, denke ich auch, dann kommt halt ein anderer. Das Zeug muss raus aus den Leuten, Herr Reznor wird etwas anderes machen müssen. Oder platzen.
Du schliefst ganz zum Schluss sicherlich, ich hoffe, Du hattest gute Träume. Ich lehnte währenddessen auf der Autotür, genoss ein wenig einen „Head like a hole“ und beobachtete den „March of the pigs“, den all der Vollidioten, die gleichzeitig vom Parkplatz fahren wollten und sich folgerichtig nur ineinander verkeilten. Seltsam, völlig entspannt irgendwie.
Nine Inch Nails – 29.06.2009, Düsseldorf – Philipshalle
Autor: Philip Nussbaum












