Wochenlang dröhnten mit „Melissa“ und „I am the dark“ zwei Songs durch Deutschlands Szeneclubs, von denen nur bekannt war, dass sich ein Projekt namens „Snakeskin“ zur Audioattacke bekannte. Das Rätselraten um die Person unter dem lässigen Cowboyhut und der schwarzen Sonnebrille nahm einfach kein Ende. Doch wer zur Quelle wollte, musste erst mal gegen den Strom voller ungemütlicher Soundcollagen und Distortionstrudel schwimmen und sich vor allem in Geduld üben. Kurz vor der Albumveröffentlichung des situationsbezeichnenden Titels „Music for the lost“ platze die Bombe schließlich doch noch und sorgte wohlmöglich für die Überraschung des Jahres: Kein Geringerer als Lacrimosa-Sänger Tilo Wolff steckt hinter all dieser Verwirrung!

So manch hart eingesessener Lacrimosa-Fan wird verblüfft die Augen aufreissen, wenn er Tilos Soloprojekt erstmals in den Discman legt: Verzerrte Pitchvocals über noisige Synthparts, die gerne von klassischen Elementen zum Industrial-Electro springen. Nach fast 15-jähriger Filigranität kann dieser grobwirkende Klangbrocken schon wie eine Art Schock wirken. Ähnliche Reaktionen kamen jedenfalls von nahezu allen Freunden und Bekannten aus Tilos näherem Umfeld, die ihn spätestens nach sechseinhalb Minuten stets baten, die Anlage abzuschalten. Letztenendes fanden die beiden Appetitanreger doch noch ersten Anklang bei den deutschen Szene-DJs und ihren Weg in die Heavy Rotation, um von dort aus in aller Munde zu gelangen.
Mit der Versteckspielaktion präsentiert uns der Frankfurter nicht nur sein Soloprojekt, für das er endlich nach 14 Jahren Zeit gefunden hat, sondern auch jede Menge profitvernachlässigende Courage. Anstatt sich als angekündigtes Lacrimosa-Nebenprojekt auf lang erarbeiteten Lorbeeren auszuruhen, stellt sich Snakeskin mutig der eigenen Reifeprüfung und dem unabhängigen Kampf gegen alle Kritik, um mit eigenständigem Wesen zu überzeugen. Dass dieser essentielle Fight, durch all seine provozierenden Extreme, kein Zuckerschlecken werden würde, hinderte den Schaffer nicht, erneut unbekümmert und konsequent zu seiner Kunst zu stehen. Schliesslich ist Snakeskin, nicht anders als Lacrimosa, ein Produkt aus Tilos Seele, trotz der anderen formalen Gestaltung.
Eines vorweg: Wer nähere Gemeinsamkeiten von Snakeskin und „Music for the lost“ in Lacrimosa sucht, wird bitter enttäuscht werden, denn die beiden Projekte unterscheiden sich fundamental. Während Tilos klarer Gesang bisher eine narrative und zentrale Rolle spielte, ordnet er sich nun einzig und allein organisch dem musikalischen Geflecht unter. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum die englischen Lyrics nur auszugsweise im Booklet zu finden sind.

Die durch unzählige Verzerrer und Pitchshifter gejagten Vocals unterstreichen den Industrial-artigen Charakter in „Music for the lost“ und lassen eher an Wumpscut oder Skinny Puppy erinnern, als an den vor ein paar Monaten noch in Hildesheim performenten Gothic. Dieser Eindruck wird nicht nur durch die beiden Extra-Mixe von Combichrist und Kiew, sondern auch von dem durchgängigen und eher ungemütlichen Flair der Scheibe selbst bekräftigt. Dennoch bewegt sich das Album eher „genrelos“ umher, da die Tracks sich nicht auf einen Stil beschränken. Es werden Elemente aus einem Topf von Electro, Klassik oder beispielsweise Darkwave geschöpft und ordentlich mit Noise gewürzt. Das hört sich zwar nach einer wilden „Stilorgie“ an, ist in Wirklichkeit aber nur unter der Lupe auffällig, da der durchgängige Sound das Album als sehr einheitlich vertuscht.
Der Song „Cinderella“ grenzt sich, ebenso wie die beiden Clubgänger „I am the dark“ und „Melissa“, am meisten durch seine melodische Seite von den eher clusterhaften, athmosphärischen Tracks des Gesamtwerkes ab, bleibt aber dennoch hart und bissig. Generell würde ich die bizarren Gebilde von „Music for the lost“ niemandem mit empfindlichen Ohren advisieren, da schon Titel wie „Symphony of Pain“ eigentlich alles über den Kern der Platte sagen…

Die „Schlange“ namens Wolff bewahrt, trotz unangenehmer Häutung, ihre weiche, innere Seite. Genauso extrem wie ihre Metamorphose von statten ging, wird auch die Meinungsspaltung über „Music for the lost“ ausfallen: Entweder wird man die provokanten Vocals und den Vorstoß in abgründige Klangwelten als teuflisch gut empfinden oder als Katzenjammer abstoßen. Für die gewagte Albumveröffentlichung darf Tilo Wolff jedenfalls den Cowboyhut vor sich selber ziehen, da er es auch auf anderem Wege schafft, mit stilfreier Tonmalerei seelische Eindrücke zu schildern.

Autor: Francois

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