Der Tag begann ganz entspannt mit dem Weg zum Flughafen, ein kurzes Schläfchen im Flieger und dann war es auch schon fast so weit: Wie ein Rockstar wachte ich im Flieger auf, schob mir die Sonnenbrille auf die Nase, stolzierte eine steile Treppe hinunter und fuhr dann mit dem Bus direkt zum Festival.
Das Flow Festival war auf einem alten Industriegelände (mit unter anderem alten Gasometern) gelegen und lud zum Feiern ein. Als ich gegen Nachmittag eintraf war der Platz, auf dem sich am Abend bis zu 30.000 Menschen treffen sollten, bereits gut gefüllt.
Mein erstes Konzert des Tages war Isaac Sene. Der junge Künstler hat in den letzten Monaten eine kometenhafte Karriere hingelegt, die ihn fast zum finnischen Repräsentanten beim Eurovision Songcontest gemacht hätte. Hier wurde er im nationalen Finale jedoch knapp von The Rasmus überholt. Es gab eine Mischung aus Schmuserock, Indie Rock und teilweise etwas härteren Rock, der zum Mittanzen einlud. Vor der kleinen aber toll angelegten 360-Grad-Ballon-Bühne dankten es ihm seine Fans mit euphorischen Feiern.
Und eh man’s sich versah, war es auch schon so weit: Die Gorillaz spielten! Zuerst war ich skeptisch, wie die “virtuelle” Band auftreten würde, aber das Ganze entpuppte sich bereits nach ein paar Minuten als großartige Show. Wie ihr auf den Bildern sehen könnt, gab es zum filmischen Material auf den Großleinwänden, sozusagen eine Liveband, angeführt vom ehemaligen Blur Sänger Damon Alban. Doch nun etwas mehr Details zur Musik. Den Auftakt und gleichzeitig ein gutes Intro bildeten das hämmernde M1A1. Bereits bei den ersten Worten des Liedes ”Hello…, hello…” war das Publikum voll dabei und bei den ersten ”La la la”-Chören gab es dann auch in den letzten Reihen kein Halten mehr.
Darauf folgte der Song Strange Timez, den die Gorillaz zusammen mit Robert Smith (Sänger von The Cure) aufgenommen hatte. Letzterer tauchte aber leider nur im Video und nicht persönlich auf. Trotzdem ein genialer Song – schräg, aber geil. Gechillter ging es dann mit Last Living Souls vor sich hier, hier kam groovige Stimmung auf. Der kritische Unterton mit Weltschmerz sollte auch in anderen Songs immer mal wiederkehren. Einer meiner persönlichen Höhepunkte des Konzerts war Kids With Guns. Der simple Rhythmus des Liedes fährt direkt in Arm und Bein und dazu kann man sich überlegen, ob man sich einfach nur mit der Musik mitreißen lässt oder auch noch tief in den Text eintaucht. Eine der schönsten Nummern vom Video war Melancholy Hill: Hier ging die Story eher traurig und pessimistisch los, aber als dann “all the submarines” gerufen wurden, sah man nicht nur die Bandmitglieder in kleinen U-Booten zu Hilfe eilen, sondern auch viele Freunde. Auch das Publikum bewegte sich als große befreundete Einheit. Ein paar Songs später durfte bei Andromeda dann wieder richtig zu einem fast diskoartigen Rhythmus getanzt werden. Gegen Ende feuerte die Band dann noch die Hits Feel Good Inc., Clint Eatswood, Don‘t Get Lost In Heaven und Demon Days ab. Nach fast zwei Stunden war der groovige Wirbelsturm aus virtuellen Helden und Liveband dann leider schon wieder vorbei.
Der Samstag begann erst mal mit Ausschlafen, Vorräte in der Wohnung beschaffen und Helsinki erkunden. Das ist einfach der Vorteil eines Stadtfestivals, dass man mal eben schnell einkaufen kann und auch noch etwas anderes sehen kann.
Gegen 18:30 kam ich auf den Platz und das Ziel war klar: Die Red Tent Stage sollte es sein. Bevor die nächste Band auf die Bühne kam, pumpte erst mal etwas elektronische Musik vom Band und dann kamen auch schon die Mädels von Bikini Kill auf die Bühne. Die ersten Reihen inklusive aller im Bühnengraben mussten Masken tragen, was die Stimmung aber keineswegs trübte. Die Damen feuerten gewürzt mit frechen Grimassen ordentlich Punk aus den Instrumenten. Zwischendurch rotierten Instrumente und Sängerinnen, sodass alle mal ein bisschen von allem präsentierten. Zwischen den Liedern ließen Bikini Kill es sich nicht nehmen, ihren Frustrationen über Ungerechtigkeiten und Gemeinheiten in der Welt Luft zu machen und zum Handeln aufzurufen.
Nach diesem energiegeladenen Konzert legte ich eine kurze Atempause ein und hörte ich mir einige Songs der britischen Holly Humberstone an, die auf der Free Fi Blackstage spielte, dessen Zelt leider nicht allen Fans Platz bieten konnte. Die junge Künstlerin präsentierte mit einer Schlagzeugerin netten Pop, der genauso gut aus Skandinavien hätte stammen können. Zeit, um durch die Menge nach vorne zu gelangen und Fotos zu machen gab es leider nicht, denn ich musste zum heutigen Headliner.
Auf der Hauptbühne erwarteten mich und die übrigen 30.000 Menschen Florence + The Machine. Die charismatische Frontfrau Florence Welch zog mich und alle anderen direkt in ihren Bann. Sie wirbelte wie ein Wassergeist bereits beim Opener Heaven Is Here über die Bühne. Und während die Zuschauer:innen rhythmisch im Takt schwangen, liefen wir Fotograf:innen unentwegt hin und her. Man wusste nie, was als nächstes passieren würde. Erst nachdem wir aus dem Graben waren, kam Florence zum ersten Mal (barfuß) zum Publikum herab. Beim zweiten Song King bekam ich wirklich eine Gänsehaut und es lief mir heißkalt den Rücken herunter. Ich kannte die meisten Songs der Band, doch live war das noch einmal eine ganz andere Liga. Zwischendurch sprach Florence immer wieder das Publikum direkt an und redete über ihre Songs, was das Konzert noch mehr zu einem tieferen und emotionalen Erlebnis machte. Dabei war es niemals traurig; zum Beispiel bei The Dog Days Are Over klatschten alle rhythmisch und begannen zu springen. Die Stimmung glich mehr einer heiligen Messe mit einem Gospelchor als einem Musikkonzert auf einem Open Air. Bei June folgten alle Florences Aufforderung, die auch mehrmals im Text kam: ”Hold On To Each Other”. Etwas später gab es dann noch mal Gänsehaut bei Never Let Me Go Again. So erzählte sie, dass sie dieses Lied über viele Jahre nicht live gespielt hat und es auch nie wieder spielen wollte, weil es sie zu sehr an eine schwierige Zeit in ihrem Leben erinnerte. Aber durch die Popularität des Songs wurde Florence klar, was das Lied nicht nur für sie, sondern all ihre Fans bedeutete und da all ihre Fans dort draußen immer für sie und ihre Band da sind, traute sie sich wieder. Oh man, da hatte ich wirklich einen fetten Kloss im Hals, Tränen in den Augen und Herzklopfen, dass ich dachte, die Erde vibriert. Und damit übertreibe ich nicht; die Stimmung war wirklich etwas Besonderes und selbst beim Schreiben des Berichts zittern mir, während das Lied im Hintergrund läuft, die Hände. Direkt danach wurde die Stimmung dann zum Glück wieder etwas dynamischer mit Hunger. Das Lied ist zumindest musikalisch fröhlich und poppig, aber an diesem Abend habe ich zum ersten Mal richtig auf den Text gehört. Hui, auch dieses Lied ist so persönlich und geht unter die Haut. Die gesamte Zeit über hatte Florence wirklich eine spezielle Kontrolle über das Publikum und so bat sie alle bereits mitten im Konzert alle, ihre Handys wegzustecken. Sie erklärte, dass die kommenden Minuten NICHT dokumentiert, geteilt oder kommentiert werden mussten. Auf diese Bitte hin verschwanden tatsächlich fast alle Handys, die kurz zuvor noch über den Köpfen der Fans schwebten. Das habe ich noch bei keinem Konzert erlebt und ich denke nicht nur für mich war dadurch das Konzert noch intensiver. Gegen Ende des Konzerts sprach Florence mit ruhiger Stimme: „Ihr seid jetzt Teil des Florence + The Machine Kults.“ Zuerst dachte ich noch, dass wäre ein Scherz, bis sie kurz darauf das Publikum aufforderte, ein paar Menschenopfer zu erbringen. Ja, und da war ich mir dann nicht mehr so sicher. Auf diese Aufforderung hin wurden tatsächlich immer mehr Fans auf die Schultern anderer Fans gehoben und kamen so Florences Bitte nach. Als letzten Song gab es dann Rabbit Heart (Raise It Up). Hier mobilisierten alle noch mal die letzten Kräfte und rissen immer wieder euphorisch die Arme im Refrain in die Höhe. Als dann die Lichter angingen, hatte ich wie viele anderen ein undefinierbares Gefühl im Körper und vor allem im Bauch. Ich musste mich erst mal setzen, um diese Erfahrung zu einzuordnen und zu verarbeiten.
Wer also irgendwann die Möglichkeit hat diese Band live zu sehen, sollte keine Sekunde zögern.
Das Festivalwochenende verging wirklich wie im Fluge und so kam nach dem großartigen Headliner des Vorabends auch schon der dritte und letzte Tag.
Doch nicht lang schnacken, weiter zur Musik. Am Nachmittag nutzte ich erst mal die Zeit, weiter das Gelände zu erkunden. Denn Flow Festival bedeutet nicht nur Musik, sondern auch Kunst und Kultur. So durfte ich nach etwas Wartezeit eine Kunstinstallation im Gasometer anschauen. Es war eine Mischung aus einer physischen Installation, die aber durch eine Klanginstallation und die spezielle Architektur des Gebäudes erst so richtig zur Geltung kam. Wie auch gestern ging es für meine erste Band des Tages zur Red Tent Stage. Black Midi ist eine junge Band, die ihre Musik aus verschiedenen Genres kombinieren, von denen ich teilweise noch nie etwas gehört hatte. Also auch etwas Tolles, dass man seinen eigenen Horizont auf diesem Festival erweitern kann. Black Midis Sound war irgendwie eine abgefahrene Mischung aus progressive Rock, Jazz, zwischendrin Sprechgesang wie von Jim Morrison von The Doors. Absolut abgefahren und jedes Mal, wenn ich dachte: “das klingt doch wie…”, hauten sie etwas Neues raus. Es war wirklich spannend, die Band zu hören, auch wenn ich es ehrlich gesagt nicht daheim anhören würde.
Dann versammelten sich die 30.000 Menschen vor der Hauptbühne, um dem Star Nick Cave und seiner Band The Bad Seeds zu huldigen. Auch für uns Fotografen:innen war es ein besonderes Happening. Wir durften ganz nach vorne, aber nur an den Rand, denn der Meister hatte sich einen eigenen Laufsteg direkt an den Zaun bauen lassen.
Bereits 10 Minuten vor dem planmäßigen Beginn des Gigs ging die Intro Musik los und die Band kam auf die Bühne. Die schnelle Bluesrocknummer Get Ready For Love wurde angestimmt und Nick sprang energisch auf die Bühne. Und JA! direkt danach runter von der Treppe auf seinen Laufsteg um seine Fans zu begrüßen, zu huldigen und zu segnen. Die meisten von ihnen warteten schon seit Eröffnung des Festivalgeländes am Mittag, um ihm so nah sein zu können. Mein Herz raste im Bühnengraben, um ein tolles Bild zu bekommen und plötzlich stand Nick 30 cm von mir entfernt auf dem Laufsteg zu meiner Rechten. Danach folgte There She Goes, My Beautiful World. Auch hier ließ die Energie nicht nach. Nun trat auch der Langzeitfreund von Nick und Multiinstrumentalist Warren Ellis mehr und mehr in den Vordergrund. Vor allem bei den ersten Songs traktierte er seine Geige und deutete mehrfach an, sie auf dem Boden zu zerschmettern.
Im Graben ging es weiterhin heiß her und wirklich niemand unter den Fotografen:innen traute sich, die im wahrsten Sinne des Wortes im Sand gezogenen Linie zur Mitte der Bühne zu übertreten. Tja, und nach den letzten Takten des dritten Songs hieß es Zeit für den geordneten Rückzug, Nick beachtete uns gar nicht und machte direkt mit From Her To Eternity weiter. Dieses Lied war mit seinem hackenden Rhythmus etwas künstlerischer und ich nutzte die Zeit, um mir in der der Zwischenzeit einen guten Stehplatz im völlig entspannten und sehr netten Publikum zu suchen. Nick badete weiter im Publikum und interagierte mit der ersten Reihe, als wäre er auf einem kleinen Clubkonzert, ohne dass man sich jedoch in den letzten Reihen ignoriert fühlte. Beim darauffolgenden O Children setzte er sich erst einmal ans Piano und gab allen Beteiligten eine kleine Verschnaufpause. Oh mann, das Lied war so schaurig traurig und der kleinen Gospelchor um ihn herum verpasste mir erst mal eine Gänsehaut.
Kurz darauf bei Jubilee Street rastete Nick dann wieder völlig aus und war ganz der exzentrische Rockstar. So badete er wieder im Publikum und warf mehrfach sein Mikrofon auf den Boden, dass es nur so in den Ohren knallte.
Auch später am Abend ließ Nicks Aufmerksamkeit für die ersten Reihen nicht nach. So tanzte er zum Beispiel mit einer Zuschauerin auf seinem kleinen Laufsteg. Sie hatte ein Schild dabei, auf dem stand: ”Please, dance with me, Mr Cave” und ihr Wunsch wurde erhört. Durch die Medien ging an den folgenden Tagen aber eine andere Interaktion mit einem männlichen Fan, der wie ein Fels zwischen den deutlich kleineren anderen Gästen stand. Nick wandte sich während des Konzerts mehrfach an ihn und fragte zum Beispiel: ”Are You Ready Big Guy”. Dann ließ er ihn einfach sein Mikrofon halten, während er hineinsang und borgte sein Handy aus. Tja, und gegen Ende des Konzerts sagte er dann zu ihm: ”Your are beautiful, you are really beautiful”. Kurz darauf sang Warren mit engelsgleicher Stimme im Hintergrund zu Bright Horses. Dieses langsame und ruhige Lied mit so viel Tiefe wiegte das Publikum in eine Trance. Die Welt schien ganz kurz stehen geblieben zu sein.
Mein absoluter Höhepunkt des Konzerts war Red Right Hand. Das unter anderem aus der Serie Peaky Blinders bekannte Lied summte sich ins Ohr. Hier konnte man wieder einmal Nick Caves Energie und Aura spüren. Wirklich durch das ganze Konzert war man fasziniert von Nick, zu ihm hingezogen und gleichzeitig etwas verängstigt.
Mit zwei Liedern Zugabe wurde dann das Ende des Konzerts eingeläutet. Bei Into My Arms nahm er seine beängstigende Seite deutlich zurück und sorgte dafür, dass wir alle dann doch ruhig schlafen konnten. Das letzte Lied, Vortex, kam dann schon poppig und beinahe gleichgültig daher, aber es war wichtig, den Abend und die Erfahrung Nick Cave freundschaftlich abzuschließen. Gerade bei der letzten Performance bekam ich den Eindruck, dass seine düstere Seite Teil der Show ist und er doch ein weiches Herz hat.
Alles in allem war es wirklich ein grandioses Konzert mit einem der großartigsten Dichter, Entertainer und Musiker unserer Zeit.
Die Lichter gingen an und es kam ein nettes ”Auf Wiedersehen” von den Veranstaltern, keine weitere Band sollte spielen. Ein Großteil des Publikums verließ langsam den Platz und die Aufräumarbeiten begannen. Ich musste mich erst mal setzen, um das letzte Konzert und die drei grandiosen Tage revue passieren zu lassen.
Ein grandioses Festival, das mir gezeigt hat, wie bunt Helsinki sein kann. Denn neben spannenden musikalischen Beiträgen gab es unglaublich viele gut gelaunte und nette Festivalbesucher:innen. Diese genossen ihre Freiheit nach Corona und ließen sich nicht in irgendwelche Schubladen aus Clichés und Rollen stecken.
Vielen Dank Flow Festival und Helsinki für ein unvergessliches Erlebnis.